Ein bisschen Nacht muss sein – Mit der Autorin Karin Kalisa auf Streifzug durch das Dunkel

Magst du die Nacht? Im ersten Moment eine einfache Frage, oder? Vielleicht doch nicht? Gewiss könnte man die Antwort auf ein simples Ja oder Nein reduzieren, doch würden beide Worte ein wenig trostlos im gesprochenen oder geschriebenen Raum stehen. Die Nacht mit ihren Herausforderungen und Geheimnissen, ihren Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, kurzum ihrem Dazwischen, hat sich ein „Mehr“ geradezu metaphorisch auf den Leib geschneidert, vielleicht eher auf den Leib schneidern lassen. Denn rein naturwissenschaftlich und biologisch betrachtet, ist die Nacht erst einmal nichts anderes als das Dunkel, die Gegenseite des Tages, die Zeit des Schlafs und der Träume, der Entschleunigung, der körperlichen Ruhe und Regeneration. Darüber hinaus wird sie aber auch mit Furcht und dem Tod in Verbindung gebracht.

Wenn das Tageslicht schwindet, grübeln wir mehr. Wälzen unsere Sorgen. Spüren Schmerzen intensiver. Steigen ab in Fantastereien (über Gespenster zum Beispiel). Oder lassen uns zu kreativen Ideen inspirieren. Die realen Schatten scheinen metaphorisch mit den Schatten in uns zu verschmelzen. „Nun wird es dunkel: du mußt anders werden“, heißt es zu Beginn des Gedichts „Pro domo et mundo“ aus der Feder des Schriftstellers und Büchner-Preisträgers Wolfgang Hilbig (1941-2007). Mit dieser Zeile ist das Thema der individuellen und realen Nacht poetisch auf den Punkt gebracht. Nur diese eine Frage steht bei all den Gedankenspiralen und der Anpassung unserer Sinne an das schwindende Licht weiterhin im Raum: Magst du die Nacht?

Die Autorin Karin Kalisa hat sich in ihrem 2023 im Droemer Verlag erschienenen Erzählband „Magst du die Nacht? 18 Geschichten von der anderen Seite des Tages“ darangemacht, ihre ganz eigenen Antworten zu finden. Die Essays sind aber auch als eine Einladung an die Leserinnen und Leser zu verstehen, sich der (eigenen) nächtlichen Fußspuren im routinemäßigen Alltagstrott bewusst zu werden. „Ohne Vorauswahl kam es auf mich zu: in Märchen und Montanwissenschaft, in kontrapunktischen Etüden und funkigen Popsongs, in Gedichten und Gebeten, in Mitternachtsmahlzeiten und Nachtzügen, in Himmelsmechanik und Tiefseeforschung.“ (S. 8)

Locker und leicht, dabei jedoch niemals oberflächlich oder belehrend folgt man den nächtlichen Fußspuren, die mal eingewoben sind in Beobachtungen (wie bei Phänomenen von Polarlichtern oder Sternen), in Kunst, Literatur, Theologie, Geschichten, Musik, Kultur, Religion, Wissenschaft, kurzum: alles, was den Menschen ausmacht, was uns bewegt, uns im Leben begleitet, uns inspiriert oder uns im wahrsten Sinn des Worts den Schlaf raubt, hat auch immer etwas mit der Nacht zu tun, ob wir es bemerken oder nicht.

Nehmen wir zum Beispiel ein musikalisches Auftragswerk gegen Schlaflosigkeit. Der Schlaflose ist in diesem Fall Graf Hermann Carl von Keyserlink (1696-1764), deutsch-baltischer Diplomat in russischen Diensten und Förderer von Johann Sebastian Bach (1685-1750). Um seine Nachtruhe zurückzuerhalten, fragt er beim Komponisten um eine Einschlafmelodei an, welche ihm denn auch recht zügig unter dem Titel „Clavier Ubung bestehend in einer A R I A mit verschiedenen Veränderungen vors Clavicimbal mit 2 Manualen. Haupttonart G-Dur“ geliefert wird. Bekannt ist das Werk heute allerdings unter dem sehr viel weniger sperrigen Titel „Goldberg-Variationen“, benannt nach dem Cembalisten und Bach-Schüler Johann Gottlieb Goldberg (1727-1756), der dem Grafen Keyserlingk die Stücke zur Nacht aus einem Nebenzimmer vorzuspielen pflegte. „Keine Fuge, keine Sinfonie, kein Oratorium. Einfach nur eine Klavierübung hat Johann Sebastian Bach seinem Freund und Förderer zugeeignet. Und doch firmiert dieses Stück als eines der wunderbarsten und zugleich schwierigsten Stücke der Klavier-Literatur, an dem sich die Besten und Allerbesten der Szene probiert haben und auch weiterhin probieren werden. Darunter einer [Glenn Gould], der kongenial, wie man versucht ist zu sagen, unter chronischer Schlaflosigkeit litt. Das muss irgendwie gepasst haben.“ (S. 24)

Ein weiteres Nacht-Beispiel findet Karin Kalisa im Oeuvre des Barockmalers Adam Elsheimer (1578-1610). Im Jahr 1609 vollendete er, zu dieser Zeit in Rom lebend, das Gemälde/Nachtstück „Die Flucht nach Ägypten“ (seit 1799 Alte Pinakotek München). „Man sagt von Elsheimer, er habe das Wesen der Natur eingefangen wie kein anderer, dass er den Malern seiner Zeit, aber auch den kommenden Generationen die Augen geöffnet habe.“ (S. 117) Vor allem die Lichter, vorzugsweise der Mond und die Sterne (inkl. der Milchstraße) sind es, die den Betrachter in Bann schlagen. Lichter, die das Dunkel so präzise erleuchten, dass es sich nicht nur um Betrachtungen des bloßen Auges handeln kann. Das Gemälde galt daher lange Zeit als „Lehrstück für die künstlerische Gestaltung von Licht und Schatten der Nacht. – Außergewöhnlich sorgfältig hat Elsheimer die Sterne gemalt, mit unverdünnter Farbe und unter der Lupe – pastos – aufgesetzt in Hellgelb und Weiß“. (S. 119) Mehr noch, er muss dabei durch an einem Sommerabend in Rom durch ein Fernrohr geblickt haben. Zum Vergleich: Galileo Galilei begann seine Beobachtungen des nächtlichen Himmels im selben Jahr. Die Schrift „Nachricht von den neuen Sternen“ mit Beschreibungen und Möglichkeiten des Fernrohrs erschien 1610. Elsheimer hatte vermutlich ein einfaches Exemplar jenes Instruments in Gebrauch, „das der niederländische Brillenschleifer Hand Lipperhey erfunden und sich dabei überlegt hatte, dass insbesondere das Militär hochgradig interessiert sein dürfte“. (S. 118) Wiewohl waren es vor allem die Astronomen, die neuen wissenschaftlichen Nachtschwärmer, die daran ihre helle Freude fanden und den nächtlichen Himmel fortan mit neuem Enthusiasmus beobachteten, kartographieren und deuteten.

Natürlich ist mittlerweile aufgrund von unzähligen Funden, von unzähligen Ausgrabungen bekannt, dass bereits die alten Babylonier in den Nachthimmel spähten. Lubat (akkadisch: bibbu) meint im Sumerischen, der ersten Sprache, für welche der Mensch eine Schrift entwickelte, „Planet“. Bekannt waren fünf. Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn. Auch Sonne und Mond besaßen im Altertum noch Planetenstatus. Zudem unterteilte man in Babylon die Nacht in drei Nachtwachen mit gleichlangen Abschnitten (abhängig von der jeweiligen Jahreszeit): bararitu mit dem beginnenden Sternenaufgang, kablitu um Mitternacht und namaritu zum Anfang der Morgendämmerung. Manche Quellen nehmen Mitternacht als Ausgangspunkt der Berechnung, andere geben an, „dass die babylonischen Astronomen den Tagesanfang mit dem Sonnenuntergang in eins setzten“. (S. 182) Recht praktisch für die Bestimmung von Mondphasen, Finsternissen und nächtlich-himmlischen Konstellationen. Ob es zu dieser Zeit – immerhin befinden wir uns im zweiten und ersten vorchristlichen Jahrtausend – bereits Nachtwächter in den Städten des Zweistromlandes gab, darf vermutet werden, wiewohl „der Nachtwächter“ als Beruf, der im Dunkel für Recht und Ordnung sorgte respektive vor Feuer oder Dieben warnte, erst seit dem Mittelalter bekannt ist. Laut dem Don Quijote sind eben in der Nacht alle Katzen grau.

Dann doch lieber die Nacht in einem Nachtzug verbringen und sich im Dunkel an neue Orte tragen lassen. Oder während des Schlummers vom Rückgang der Lichtverschmutzung träumen, die dazu führt, dass unser nächtliches Leben immer heller und unsere Nächte für den Biorhythmus immer unruhiger werden. Da helfen vielleicht doch nur Musik à la Goldberg oder ein paar praktische Kräuteranwendungen; Baldrian zum Beispiel, fünfundzwanzig Tropfen sollen das sanfte Sinken in Morpheus Armen sicherstellen. Im Falle, dass man in frei gewählter Absicht eine Nacht durchmacht, weil Job, Studium oder freizeitliches Vergnügen es erfordern, hilft „eine Kanne Assam Broken mit Zitrone und Honig“ oder eben das gute alte Koffein, an das man allerdings nicht zu sehr gewöhnt sein sollte. (S. 183)

Die Nacht ist eben die Nacht ist die Nacht ist die Nacht … Also, magst du die Nacht? Aus mehr als achtzehn Gründen, die in ihrer Fülle allesamt in Karin Kalisas Geschichte vorkommen und an dieser Stelle natürlich nicht gänzlich verraten werden sollen: Ja. Aber nicht nur wegen ihres Zaubers oder der Romantik oder wissenschaftlichen Fakten, sondern weil sie uns hilft, für ein paar Augenblicke den Erwartungen des Tages zu entfliehen und das Ich einfach wieder einmal Ich sein zu lassen. So wie es Wolfgang Hilbig meint: „und es ist Nacht und Zeit daß du dich wandelst“.

Ein Beitrag von Dr. Constance Timm


Literaturhinweis:

Karin Kalisa. Magst du die Nacht? 18 Geschichten von der anderen Seite des Dunkels. Droemer Verlag: München 2023.


©  Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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