Dazwischen?

Vor wenigen Tagen wurde Kroatien von einem Erdbeben mittlerer Stärke erschüttert. Die Ausläufer dieser Plattenbewegungen waren noch in den anderen Staaten des ehemaligen Jugoslawiens zu spüren. Auch in den Höhlen von Pazin geriet das weit verzweigte unterirdische Wassersystem in Unordnung, spülte Unmengen von Artefakten an, Helme, Puppen, Knochen, Flaschen, blaue Plastikteile, die von Antipersonenminen aus den Kriegen der Neunziger Jahre stammten, alte aufgeweichte Soldbücher, Gasmasken sogar aus den ersten beiden großen Kriegen des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Karsthöhle von Pazin, die am Rande einer gewaltigen Schlucht liegt, wurde zwar immer wieder erforscht, Taucher drangen weit vor oder verschwanden, aber es ist nicht genau geklärt, bis wohin sich diese Seen, die teilweise über- beziehungsweise untereinander liegen, und die sie verbindenden Höhlensysteme erstrecken.

© Clemens Meyer

Dante, der, so sagt es die Legende, einst am Rande der Schlucht von Pazin stand, wusste wahrscheinlich nichts von den Wässern im Fels, sonst hätte er seine Hölle wohl geflutet, das wahre Grauen liegt doch tief im kalten Nass, im Ersticken, Flugzeuge, die über dem Ozean abstürzen, verschwinden spurlos, und als Halbgläubiger (Monotheist, wobei Stereotheismus sicher interessant ist, aber vielleicht ist es ja wie bei den Jazzaufnahmen der 50er Jahre, Mono ist mehr!) fragte ich mich, was macht die Seele (beziehungsweise: wie gelangt sie von dort hinauf zum Licht), zwanzigtausend Meilen unter dem Meer? Dunkelheit, ist das die elementarste Angst? Lange Zeit ließ ich eine Kerze brennen, wenn ich mich schlafen legte, weil das böse Geister (andere sagen: den Teufel persönlich, aber wer soll das sein, Mister M? Die Chefin des britischen Geheimdienstes MI5?) fern hält. Schwärze. Bei Poe ist es das Weiß, was das Grauen bedeutet, das unermessliche Angst bringt. Das Letzte, was Arthur Gordon Pym sieht auf seiner Irrfahrt über den Ozean, ist ein riesiges weißes Wesen. Nein, der uns allen bekannte Wal ist es nicht. „Nun überflogen kleine Vögel den noch immer klaffenden Schlund; eine weiße Gischt schlug auf dessen weiße steile Seitenwände ein; dann brach alles in sich zusammen, und das große Bahrtuch des Meeres rollte sich hin, wie es vor fünftausend Jahren schon hingerollt.“

Die Geburt der Moderne. Lange vor Joyce war Melville. Und Dostojewski. Melville bündelt die Stimmen auf einem Schiff, auf einer irrsinnigen Jagd. Wo ist oben und wo ist unten. UNS BLEIBT DIE LUFT WEG. Und was ist dazwischen? Heute ist keine Zeit mehr, um in die Zwischenwelten zu schauen, sich ihrer bewusst zu werden. DER GLAUBE an seltsame Silberfäden zwischen uns taumelnden Kreaturen ist verloren. Weil doch nichts nachweisbar ist. Jedes DAZWISCHEN tut uns so ENTWISCHEN. Das Bewusstsein, dass der Kosmos, also ALLES um uns, einfach nur IST, kann entmutigend sein. Der IS allerdings ist in seiner monotheistischen Rechthaberei dann doch… Aber ist er nicht längst verschwunden? Und wenn man vom IST, über den I.S. zur I.S.S. kommt, also der International Space-Station? WIE WOLLEN DIE GÖTTER ÜBERLEBEN, wenn selbst die Toten in den Zwischenwelten schweigen? Auch Astronauten sehen keine Seelen. Oder hören wir nicht mehr… Und betören wir nicht mehr… Und zerstören um so mehr. Vor wenigen Tagen erschütterte ein Erdbeben der mittleren Stärke Kroatien. „Als die Giganten Göttern Furcht gemacht…“

Dostojewski bündelte die Stimmen in einer kleinen Stadt, wo „Böse Geister“ wohnen, erwachen, uns anblicken, aus uns kamen, wir selbst jagen den Wal, fressen, schlagen, verletzen, ringen nach Luft, verlieren uns in den Stimmen…  „So drang ich durch das dichte Dunkel dann; / Doch als ich nah und näher kam dem Schlunde; / Floh mich der Irrtum und die Furcht wuchs an.“

Die Ratio durchdringt die Furcht, weiß im Malstrom aber auch, dass da unten irgendwo das Ende kommt, bei E.A. Poe wird eine strudelnde Zwischenwelt aus Leben und Tod mit der Ratio durchdrungen, Dupin (ein Vorläufer des großen Detektivs Sherlock  Holmes) ermittelt die Wahrheit, der Fischer entkommt dem Malstrom, weil er deduziert, nicht die Kontrolle verliert, seinen Verstand gebraucht, aber unter den Dielen des Hauses of Usher, des Hauses of US, schlägt dennoch das Herz, das verräterische Herz, und es schlägt und schlägt, pocht von unten durch die Dielen, und der Rabe krächzt: NEVERMORE, und der rote Tod trägt eine Maske, toter Rot…

Eine von Poes Höllen ist der erwähnte Malstrom. Kreis um Kreis trudelt das kleine Fischerboot mit den beiden Brüdern diesem Abgrund entgegen. Artefakte (Trümmer, Fässer, Wrackteile, Leichen, zerfledderte Atemschutzmasken, hellblaue Plastikteile, die von Antipersonenminen stammen könnten) treiben nach oben und verschwinden im Grund und im Strudel, und treiben nach oben, und werden, so erinnert sich der Fischer und erkennt nun die Rettung, an den Strand gespült, wenn der Malstrom sich für wenige Augenblicke wieder an die Oberfläche drückt und alles ausspeit, bevor das endlose Kreisen und Hinabziehen wieder beginnt. Artefakte, die aus den Tiefen der Höhle von Pazin zu uns dringen, angespült werden im Höhlenmuseum, am Fuße der Schlucht. Es gibt kein Dazwischen. Es gibt nur ein Jetzt. Poe ist nie in Pazin gewesen. „So dass die trächtige Luft sich niederschlug; / Der Regen fiel und stürzte zu den Gräben; / Soweit der Boden ihn nicht mehr vertrug. // Als er zu großen Flüssen sich begeben, / Stürzt er zum Königsstrom in solchem Lauf, / Dass nichts vermochte ihm zu widerstreben.“

Ertrinken, ersticken. Strahlendes Weiß einer frisch gewaschenen Schutzmaske, strahlendes Weiß des Flugzeugs, Kondensstreifen, die zur Oberfläche des Ozeans führen, Milch, strahlendes Weiß einer Schutzmaske, Hellblau, Pink, wussten Sie, das KINO ein mineralischer (?) Stoff ist, aus dem man eine Farbe gewinnen kann? (Laut dem Band „Farben“ aus der Reihe „Miniatur-Bibliothek“, den ich leider nicht finden kann, wer will schon googeln, die Welt ist ja flach! Handflächengroß sind die Büchlein dieser beinahe unendlichen Reihe, Tausende Titel gibt es, alle zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts erschienen: Der Waldbau, Suggestion, Moorkultur, Konstruktion von Flugmaschinen, Bodenbearbeitungen mittels Sprengstoffen, Versunkene Kontinente. Zu finden sind diese Quellen von Wissen, Halbwissen und spektakulären Manipulationen der Realität nur noch in der Zwischenwelt der Antiquariate, wo die Toten sich aus dem Staub erheben, die Buch- und Holzwürmer ticken…)

Ertrinken, ersticken. Weiß ist keine Farbe, weil es das NICHTS ist. Wachen wir nicht oft auf, aus schweren Träumen, aus bodenloser Dunkelheit, nach Atem ringend? Eine Aerosolbombe beispielsweise nimmt den auserkorenen Opfern die Luft: Der Himmel brennt,  o mein Sihdi, in Millisekunden dehnen wir uns aus und schrumpfen wieder, ich ersticke und krieche weg, der Himmel brennt, o mein Sihdi, Rüdiger erstickt und kriecht weg und kriecht doch keinen Millimeter, und wir ersticken nicht wirklich, unsere Lungen werden traumatisiert im Explosions-Vakuum der Aerosolbombe, die über uns detoniert und uns gefangen hält in einer Kuppel aus gleißendem Nichts, und ich finde Rüdiger und finde mich, bewegungslos und unversehrt, wir liegen inmitten der Kämpfer des Kalifats, und wir alle scheinen nur zu schlafen, traumatisiert nur in unseren Lungen, deren Flügel später aus unseren Rücken brechen, schwarz und blutig und Millionenfach geädert, als wären wir Engel, während weit über uns die Tarnkappenbomber vom Typ B2 unsichtbar und dennoch hörbar gleiten und mit spitzen, schnabelähnlichen Mäulern, die denen von Hechten gleichen, die alles fressen in den Strömen, selbst die Wolken stechen und vertilgen.

In diesen eben verklungenen Zeilen treffen wir übrigens auf eine Figur aus dem Kosmos des Dr. May, den Hadschi, der, in den Malstrom der Moderne hineingerissen, seinen Erschaffer sucht in den Kriegen und auf alten Wegen, Balkanroute undsoweiter. Wo hatte er, der Hadschi, in all dieser langen Zeit, existiert? In einer Zwischenwelt? Selbst in den Antiquariaten wird er vergessen. Gehen wir einen Schritt zurück: „Leichen- oder Blutwässer: Die in Bunkern gestapelten Fische scheiden ein Sickerwasser ab, das noch durch die Spülwässer bei der Reinigung der Räume vermehrt wird. Dieses Abwasser ist eine Mischung von Blut, Laich, Rogen… Die Leichenwässer sind ihrer äußeren Beschaffenheit nach dickflüssige, schleimige Abwässer…“

WIRD FORTGESETZT


Ein Beitrag von Clemens Meyer


Clemens Meyer debütierte 2006 mit seinem Roman “Als wir träumten”, der sowohl in Deutschland als auch international für Furore sorgte. Es folgte der Kurzgeschichtenband “Die Nacht, die Lichter” (2008), ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse. Nach “Gewalten. Ein Tagebuch” (2010) erschien sein zweiter Roman, “Im Stein” (2013), der auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand und mit dem Bremer Literaturpreis geehrt wurde. Weiterhin erschienen “Der Untergang der Äkschn GmbH” (2016), der Erzählungsband “Die stillen Trabanten” (2017) sowie die Erzählung “Nacht im Bioskop” (2020). 2020 wurde Clemens Meyer mit dem Klopstock-Preis für neuere Literatur ausgezeichnet.


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

Eine Antwort auf „Dazwischen?“

  1. Vielen Dank,sehr inspirierend , es gibt Einiges nachzulesen und nachzudenken!
    Und gleichzeitig ein zupackender Text zur Gegenwart !

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .