Der MYTHO-Blog liest trotzdem- 4.0

Antihelden

Momentan lese ich den Roman Vernon Subutex 1 von Virginie Despentes, der 2015 als Teil einer Trilogie erschienen ist, die 2018 abgeschlossen wurde. Titelheld Vernon mit dem Heroinersatz im Nachnamen ist eigentlich ein richtiger Antiheld. Als tief mit der Rockszene der 80er verwachsener Verführer und ehemaliger Besitzer eines Pariser Plattenladens ist Vernon dem Wandel im Generellen (ausgenommen bei der Wahl seiner Bettgesellschaft) eher konservativ-skeptisch gegenüber eingestellt. Nützt jedoch nichts, denn die Handlung zwingt ihn aus seinem Stückchen eingestaubter Sicherheit heraus ins Unberechenbare, als sein Rockstarfreund und Mäzen, Alex, das Überdosis-Ticket zu Jimi Hendrix nimmt. Da finanziell von Alex abhängig, findet sich Vernon in einer schwitzigen Lage, die sich so prekär entwickelt, dass er nicht mal mehr das Geld für die Miete aufbringen kann und folglich auf der Straße landet.

Hier beginnt seine Odyssee und die ersten paar Dutzend Seiten erzählen davon, wie Vernon als wotan-esquer Charakter von einer alten und neuen Bekanntschaft zur nächsten schlittert. Dabei sorgt die Autorin dafür, dass man die ganze Fahrt mit Einblick in die Gedanken der Charaktere verfolgen kann. Und die sind in ihrer Schäbigkeit das Glanzstück des Romans. Gefunden habe ich das Buch übrigens auch genauso. Indem ich empört-naiv über einer dampfenden Tasse Kaffee „was stimmt nur nicht mit den Leuten“ ins Internet gerufen habe und mir dieses verständnisvoll nickend mit einer Rezension zu Vernon Subutex geantwortet hat. In der Rezension hing das Versprechen zwischen den Zeilen, dass es sich bei dem Roman quasi um den Gesellschaftsroman unserer Zeit handelt und man die Pariser Bösartigkeit bedenkenlos auf sämtliche globalisierte Großstädte übertragen kann. Ob das jetzt so stimmt, weiß ich nicht, aber amüsant finde ich die Lektüre bis jetzt schon, vor allem, weil ich als Jugendlicher High Fidelity mit John Cusack und Jack Black absolut geliebt habe und etwas von dem Charme des Films in den Seiten Despentes mitklingt. Also wer sich von ein wenig schmuddeliger Sprache nicht abgeschreckt fühlt und zum Verschnaufen auch mal Gedankenspion des Banalen sein möchte, kann hier sicher zugreifen.

Sebastian Helm

Seelenländer

Schamanen?  Unsere westlich geprägte, auf materiellen Gewinn und Effizienz ausgerichtete schnelllebige  und „aufgeklärte“ Gesellschaft kann in weiten Teilen nichts damit anfangen. So ging es mir vor vielen Jahren ebenfalls – bis Das weiße Land der Seele (Neuauflage Ullstein Verlag 2017) der russischen Ärztin Olga Kharitidi in meine Hände gelangte.

Nowosibirsk, Herbst 1989. Die junge Olga Kahritidi meistert als jüngste Psychiaterin an ihrem Arbeitsort, einer Neurologischen Klinik, tapfer ihren Arbeitsalltag. Zu ihren Patienten gehören verhinderte Selbstmörder, Depressive, Schizophrene und irgendwann auch Nikolaj, ein junger Sibirier, der ärztliche Hilfe sucht, da er immer wieder die Stimme seines verstorbenen Onkels hört. Schließlich versetzt die Ärztin ihn in Hypnose, da sie sich davon Heilung für den jungen Mann verspricht. Das Ergebnis jedoch anders als erwartet – Nikolaj erklärt, dass er nun auf Geheiß seines Onkels Schamane werden müsse. Olga ist stark irritiert, war es den sowjetischen Bürgern doch zu dieser Zeit noch streng verboten, sich mit spirituellen Dingen zu befassen.

Dieses Geschehen ist jedoch nur der Anfang einer Reihe höchst seltsamer und rätselhafter Erlebnisse, die die Ärztin machen wird. Als ihre beste Freundin schwer erkrankt, lässt sie sich überreden, diese zu einer Heilerin nach Sibirien, in das Altaigebirge, zu begleiten. Dort begegnen ihr Vertreter der KAMS, wie sich die sibirischen Schamanen selbst nennen. Die Protagonistin betritt eine geistige Welt, die sie sich in ihren kühnsten Träumen nicht hätte ausmalen können. Durch die Schamanin Umaj erhält sie Zugang zu uraltem Heilwissen und macht einschneidende mystische Erfahrungen. Zurück in Nowosibirsk lernt sie Wissenschaftler kennen, die sie mit Erkenntnissen vertraut machen, die weit über all das hinausgehen, was sie bisher in ihrer beruflichen Laufbahn vertrat. Von nun an wird sie ihr Leben und das ihrer Patienten durch all das von ihr Erlebte eine große Bereicherung erfahren.

Olga Kharitidi Yahontova gibt in ihrem Buch Einblicke in die Geheimnisse einer uralten Kultur und berichtet von den erstaunlichen Konsequenzen ihrer spirituellen Neuorientierung. Sie lebt mittlerweile in den USA und hält weltweit Vorträge und Workshops über die von ihr entwickelten Methoden zur Trauma-Heilung; in ihrer Arbeit verbindet sie das schamanische Wissen der Altai-Region mit neuesten Erkenntnissen der Psychologie und Psychotherapie.

Schon oft habe ich erlebt, dass Bücher mich fanden, so auch dieser Bericht, welcher mich nach wie vor beeindruckt. Ich habe dieses Buch bereits mehrfach gelesen und entdecke bei jeder erneuten Lektüre faszinierende Aspekte. Ich möchte es nicht nur denen empfehlen, die sich näher mit dem Thema (sibirischer) Schamanismus beschäftigen möchten, sondern generell allen, die bereit sind, über die Grenzen des Alltäglichen hinauszudenken. Die gegenwärtige Zeit mit ihren all ihren Turbulenzen erfordert ein Umdenken; die alten Denkweisen haben nicht nur ausgedient, sondern sind auch dabei, unseren Planeten in eine klimatische, ökologische und gesellschaftliche Schieflage zu bringen. Die Beschäftigung mit uraltem Wissen und das Eintauchen in die Welt des Irrationalen können einen Gegenentwurf dazu bilden. Das vorliegende Buch trägt seinen Teil dazu bei.

Isabel Bendt

© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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