Apophis – Schlange, Schildkröte, Sandbank Oder: Von der Dunkelheit

Die dunkle Jenseitsschlange Apophis, wie sie die schwarzen Sandbänke der Zeit Nacht für Nacht gegen die Götterbarke wirft, sich hütend vor den Klingenblicken von Tefnut und Seth. Wie sie ihre Schlingen gelegt hat durch die Stunden des „Amduat“, um die Toten stolpern zu machen auf ihren Wegen in die Rechtschaffenheit des nächsten Raums, die Blüten der anderen Welt, auf die man ein Leben wartet. Ist es der Gott aus den westlichen Wüsten, der sie unter den Kiel stupst, die Götterkatze, die einst ihren Kopf gewinnt, aus dessen Verlöschen ein ruhiges und ungestörtes Paradies rührt? Man kann es nicht sagen, man weiß es erst, wenn es geschieht und man noch nicht ahnt, was dem vermodernden Fleisch des Reptils dann entspringt – aber versuchen will und muß man es auf seiner Reise durch die Nacht, in kätzischer Eleganz, das Messer der Pupillen fest in den Pranken. Es kann nicht mehr schlechter werden.

Mit der Dunkelheit tut sich der Mensch nicht leicht; doch nicht erst, seit er elektrisches Licht hat, wagt er sich, auch in der Nacht zu den mysteriösesten Dingen vorzudringen. Nein, auch in den dem okkulten und dem gepflegten Grusel der Romantik hingegebenen Jahren – die eben auch zur Aufbruchs- und Entdeckungs-Ära der Ägyptologie gehören – saugte man gern aus den Wassern des Unergründlichen … und in vielen Epochen davor. Und Napoleon sorgte dereinst neben vielem Ungemach für die Weltgeschichte um den Jahrhundertbruch zum 19. Centennium für eine wahre, Europa und die Neue Welt ergreifende Ägyptomanie, die bis heute nicht verloschen, vielleicht etwas lesbarer geworden ist.

André Schinkel © Tina Peißker

Das Altägyptische, es hat bis heute den Ruch von Glanz und Dunkelheit behalten, eine hohe und zugleich rätselhafte Art, in der Welt zu sein, sieht uns durch ihre Hinterlassenschaften an – vom Wunder einer frühen Aufgeklärtheit, dem Grusel und Staunen im Umgang der Ägypter mit dem Tod, den Kenntnissen, Geheimnissen und Wundern, die bis heute nachwirken; einem Weg in die Nacht, die doch in den Jenseitsvorstellungen der aufeinanderfolgenden Reiche und Zwischenreiche am Nil stets auch ein Weg ins Licht ist.

Vor den Eingang in die Anderswelt, das Auftauchen, das sich dem Wechsel in einen ewigen Tag vergleichen lässt, ist das Chaos gesetzt. Und das Chaos gebiert Dämonen, die eben das Durcheinander groß halten sollen und die Götter, Gottgleichen und Menschen vom Gelingen abhalten und an der Erfüllung ihrer Missionen behindern sollen. Einige sind selbst in den Dienst der Götter genommen, die Große Fresserin etwa, die der Herzwägung beiwohnt und den Sündigen den Eingang ins Duat verwehren, ins Lichtland Sechet-iaru, wo die Toten mit sündenreinen, federleichten Herzen ‚einherleben‘.

Die wirklich bösen Dämonen aber versuchen nichts weniger als die Vernichtung der Welt und des Kosmos. Und es ist gleichsam eine Verlockung, ihren Wegen zu folgen. Vor Apophis, einem Verschlinger der höchsten Kategorie, aber hütet man sich besser, selbst wenn man in die Verlegenheit kommt, im Götterstand zu sein. Nichts Geringeres als die Vernichtung des Lebens hat die Dunkelschlange im Sinn. Das Totenbuch, die Unterweltbücher, die Texte vor allem in den Gräbern des Neuen Reichs berichten davon.

Apophis (oder, etwas korrekter: Apepi) verkörpert dabei den Aggregatzustand des Isfet, das für Finsternis, Auflösung und Gewalt steht und das Gegenmaß zu Maat ist, der Gerechtigkeit, Ordnung und Harmonie, inkarniert in der gleichnamigen Tochter Res, die (siehe oben) das Herz der Toten wiegt. Die gewaltigste Erscheinungsform Apophis’ ist dabei die einer riesigen Schlange, die wohl aus dem Urmeer schon stammt und Nacht für Nacht die Götterbarke des Re (die das Licht, die Sonne durch die nächtliche Gefahr bringt) angreift und auf ihrer Reise durch die Dunkelheit verschlingen will und vom Wüstengott Sethos am Burg mittels eines „erzenen Speers“ wieder und wieder getötet wird.

Sethos, dem es als Einzigem gelingt, dem Blick der Schlange zu widerstehen, rettet so täglich die Welt. Im „Totenbuch“, im 17. und im 108. Spruch, sowie in der siebenten Stunde des berühmten „Amduat“ (auch „Die Schrift von der verborgenen Kammer“ genannt und einer der Haupttexte in den Gräbern im Tal der Könige) wird darüber berichtet. Es gibt zudem auch Passagen und Abbildungen, wonach das Ungeheuer von Tefnut oder der Götterkatze des Re (einer Erscheinungsform der Göttin Hathor) enthauptet und zerstückelt wird. Wenn es nicht gelingt, Apophis vor dem Austritt der Barke in den Morgen zu töten, droht das Verschlingen allen Seins und der Weltuntergang, dann kann die Sonne nicht mehr aufgehen, und das heilige Land am Nil (= altägyptisch: Iteru) ist verloren.

Ganz klar ist die Rolle Sethos’ nicht, der selbst als zwiespältiger und dunkler Gott gilt, dessen hohes Ansehen in der Spätzeit Ägyptens leidet. Aus der westlichen Wüste stammend, die den Toten vorbehalten ist, wird er teils als Bruder Apophis’ angesehen, teils mit ihm in eins gesetzt. Noch interessanter aber ist die Auslegung, dass der Sonnengott Re der Bruder der Schlange ist; in gewisser Hinsicht beginnt damit eine altweltliche Phalanx von Bruderkriegen, auch der Mythos vom guten und vom gefallenen Engel mag einem eingehen. Das Licht und die Dunkelheit, die Blüte und das Verderben – das alte Gegensatzpaar, zuerst in den ältesten Pyramidentexten Ägyptens, im Grab des Unas in Sakkara, mit der finsteren Gestalt Apophis’ belegt ab dem Mittleren Reich, in bildgewaltiger Fülle in den großen Dynastien (Ahmosiden, Thutmosiden, Ramessiden) des Neuen Reichs. Der Dunkle will den Lichten verhindern und nimmt dafür billigend in Kauf, dabei selbst zugrunde zu gehen.

Apophis verkörpert also das Böse und Unberechenbare, das Lauernde und zu Bekämpfende, wie es wohl in allen religiösen Weltdeutungen vorkommt. In künstlerischen Adaptionen, die bis in die Gegenwart reichen, treibt der Kult um ihn zuweilen erstaunliche Blüten – in der „Stargate“-Reihe ist Apophis einer der mächtigsten Goa’uld, er wird sogar wieder zum Leben erweckt – eine Horrorvorstellung sicher für manchen braven Altägypter und doch auch die Einlösung des Glaubens an die ewige Wiederkehr.

Wie alles im alten Ägypten ist Apophis mit den beiden Gegenpolen dieser Kultur verbunden und ein ureigener Ausdruck dieses Widerspruchs – Wasser und Wüste. In seiner zweiten und dritten Erscheinungsform als Schildkröte und als Sandbank nimmt der Dämon sogar direkten Bezug auf das Leben der Menschen am Iteru. Die „Sandbank des Apophis“ ist der Ausdruck für die ausbleibende Nilflut, der eine Hungersnot folgt.

Dürrejahre werden denn auch als „Sandbank-Jahre“ bezeichnet, es sind die Zeiten des Niedrigwassers, des Mangels an fruchtbarem Schlamm. Die Schildkröte Apophis „schlürft“ einen Teil der Fluten auf und tritt als Sandrücken aus dem sinkenden Wasserspiegel hervor. Das ägyptische „Totenbuch“ des Neuen Reichs beschreibt zugleich eine Vermischung der elementaren, der irdischen Gefahr mit dem Tag-Nacht-Mythos des durch die Dunkelheit gelenkten Bootes (Spruch 108): „Sie befindet sich auf dem Gipfel des Bachu und ist dreißig Ellen lang und zehn Ellen breit. Drei Ellen von ihrem Vorderteil sind ein Messer. Ihr Name ist Imi-hem. Sie greift die Barke des Re an, schlürft das Wasser ein und wird von Seth durch seinen Speer aus Erz vernichtet. Sie ist Apophis.“  Der Speer, der die Schlange trifft, oder der Dolch, mit dem ihr Leib zerteilt wird, bewirkt das Rückströmen des Wassers in das Bett des Nil: Re und die Seinen setzen die Fahrt fort … und die Äcker an den Ufern tragen dank der Fluten reiche Frucht – welch triftiges Gleichnis für das Leben.

Ähnlich dem gefallenen Engel in der christlichen Religion oder Loki im nördlichen Olymp kommt der Dunkelschlange der quasi teuflische, der gegenspielende Part, der Widerspiegel des Guten zu. Auch hier ist es nicht ganz ohne Ambivalenz zu sehen, denn einst waren die Götter und Monstren näher beieinander – aber in den Unterweltsbüchern der Alten am Iteru stellt Apophis in gewisser Hinsicht einen besiegbaren … nein, zu besiegenden „Verschlucker“ dar. Die Schildkröte, die die Ernte bedroht, mit einem Rücken aus Sand; die Schlange, die den Fortbestand an sich in Frage stellt: Ein Wesen aus den Tiefen des Urmeers, abgewehrt und wie ein Alp jeden Abend wartend unter dem Kiel.

Oft genug ist die Dunkelheit groß und die Hoffnung dünn. Aber es lohnt der Gedanken, zu glauben, dass das Böse in der Welt zu besiegen sei. Wenn man gewusst hätte, was einen alles im Staub über der Wüste, im Schlamm der Jahrtausende erwartet, man könnte gewarnt sein. Auch heute noch fürchtet man die „Schlürfer“ und läuft ihnen doch manchmal, lenkt zuweilen sein Boot in ihre Quere. Tag für Tag, vielmehr Nacht für Nacht liegt das stechende Auge der Schlange auf uns, ringelt sich fort bis in unsere Träume, kommt in ihnen vielleicht von den Wänden der Gräber herab, weil wir zu viel „Terra X“ schauten, und schiebt sich nun als giftige Eier legende Schildkröte über die Sandbänke ihrer selbst, steigt aus der Hysterie, mit der wir begannen, unsere Tage zu verbringen, gepixelt herauf. Wir müssen auf der Hut sein; in den tiefen Gründen lauern die Ungeheuer und geifern darauf, dass Sethos am Bug  einmal unaufmerksam ist, um sich auf die Götter zu stürzen.

Bisher kam es nicht vor. Bisher, und das, seit man Unas in seine Pyramide in Sakkara bettete, ging es immer wieder gut aus, und ein neuer Tag, ein neuer Zyklus des Lebens und Treibens und Fortbestehens unter dem – gegen das unerbittliche des Apophis gesetzten – Auge des Re konnte beginnen. Auch darin liegt eine mehrschneidige, allgemeinfassende Symbolik: Das Licht ist nur der Anfang. Mit dem Verstreichen des Tags, dem Hereinbrechen der Nacht beginnt die Sonnenbarke erneut ihren Weg durch die tiefe Schwärze, in der in vielen Schlingen in den Wassern liegend die Dunkelschlange auf den Moment wartet, das Boot kentern, das Leben verlöschen zu lassen. Wie der alte Ägypter das Ausbleiben der Flut fürchtet, ist zu hoffen, ein Gott, dem es gelingt, den sich windenden Leib des Monstrums zu vernichten, sei immer zur Stelle. Oder wir sind es selbst, indem wir uns aufmachen und unsere Stimme gegen die Dunkelheit heben. Es wird wohl auch weiter vonnöten sein.

Ein Beitrag von André Schinkel


André Schinkel ist Schriftsteller, Lektor und Archäologe. Seine Texte wurde in achtzehn Sprachen übersetzt. Darüber hinaus dichtet er aus dem Bosnischen, Serbischen, Kroatischen, Bulgarischen, Armenischen, Englischen und Altägyptischen nach. Für sein Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen und Stipendien, u. a. 2006 den Förderpreis der Ringelnatz-Stiftung. Zudem war er Stadtschreiber von Halle, Ranis und Jena. Von ihm erschienen sind u. a. durch ödland nachts (1994); Herzmondlegenden (1999); Unwetterwarnung. Raniser Texte (2007); Das Licht auf der Mauer (2015); Bodenkunde (2017); Anna Hood und das Wunder vom Crostigall (2021).


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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