Liebe in Zeiten des Krieges – Das Lied des Achill

„Ich wusste, wie es sich anfühlte, allein zu sein, kannte den bohrenden Schmerz, den einem das Glück anderer versetzte, wenn man selber Kummer litt.“ Prinz Patroklos, aus dessen Perspektive das Geschehen des Romans „Das Lied des Achill“ der Autorin Madeline Miller erzählt wird, hat kein einfaches Dasein. Sein tyrannischer Vater, König eines eher unbedeutenden Reiches, macht ihm das Leben schwer, seine liebevolle, aber einfältige Mutter ist ihrem Sohn keine Hilfe. Als Patroklos, noch ein Kind, eines Tages versehentlich einen Jungen tötet, wird er vom Hof verbannt und muss nun im fernen Reich Phthia unter den Augen des Königs Peleus sein Dasein fristen, wo man ihn zum Krieger ausbildet.

Dort trifft er den Prinzen wieder, den er bereits vor einigen Jahren als siegreichen Teilnehmer der Olympiade beneidete, aber auch bewunderte: Achill, Sohn der Göttin und Nymphe Thetis und des Peleus, des Königs von Phthia, und somit ein Halbgott. Achill verkörpert alles, woran es Patroklos mangelt: Er ist schön, anmutig und ein gewandter Kämpfer – der beste, sogar schon im Kindesalter, denn die Götter haben ihm geweissagt, dass er einst als größter Krieger – Aristos Achaion, „der beste aller Griechen“ in die Geschichte eingehen werde.

Die beiden Jungen verstehen sich gut; bald entwickelt sich zwischen ihnen eine starke Zuneigung. Sie werden unzertrennlich. Achill wählt Peleus als seinen ständigen Gefährten, sehr zum Missfallen seiner Mutter Thetis, die den Verbannten vom ersten Tage an verachtet.

Die Jungen wachsen heran, aus Kindern werden junge Männer, aus ihrer freundschaftlichen Verbundenheit wird Liebe. „Wir waren wie Götter im Morgengrauen der Welt, und unsere Freude war so groß, dass wir nichts anderes als den anderen sehen konnten.“ Miller lässt uns auch daran teilhaben, wenn sich die beiden dem Liebesspiel hingeben. Körperliche Liebe zwischen Knaben galt im alten Griechenland durchaus als nichts Ungewöhnliches; ungewöhnlich ist hier, dass Achill und Patroklos über das Knabenalter hinaus einander in tiefer Zuneigung verbunden bleiben.

Madeline Miller
© Nina Subin, mit freundlicher Genehmigung des Eisele Verlages

In ihrem Roman folgt Madeline Miller bei ihrer Interpretation der Beziehung zwischen den beiden Protagonisten Aischylos, der mutmaßte, dass es sich hierbei durchaus um ein homosexuelle Beziehung gehandelt haben könnte – anders als Homer, der das Verhältnis nur als ein enges, freundschaftliches betrachtete.

Beide Jungen werden schließlich erzogen vom Zentauren Cheiron, der sie wesentliche Dinge über das Leben lehrt – neben Jagd- und Kampftechniken und dem Überleben in der Natur auch Heilkunde und nicht zuletzt moralische Werte. Cheiron, laut Homer „der gerechteste unter den Kentauren“ und Freund der Götter, ist ein ausgezeichneter und weiser Lehrer, durch dessen Schule bereits andere zahlreiche Helden gegangen sind – Jason, Odysseus, Diomedes, Asklepios, Theuseus und selbst Achills Vater, Peleus, dessen Großvater der Zentaure ist. Cheironides, Sohn des Cheiron, nennt sich Patroklos später und zeigt damit die Verbundenheit mit seinem Lehrer.

Da geht die Kunde, dass Prinz Paris Helena, die Ehefrau des Königs Menelaos, aus Sparta entführt und nach Troja gebracht hat. Menelaos ruft seine Verbündeten, allesamt namhafte Krieger, samt ihren Heeren zu Hilfe, um seine Gattin befreien zu lassen – man segelt an die Küste Kleinasiens, nach Troja. Achill, zunächst widerstrebend, zieht mit ihnen, an seiner Seite selbstverständlich Patroklos: „‘Wirst du mich begleiten?‘, fragte er [Achill]. Der nie endende Schmerz der Liebe. In einem anderen Leben hätte ich [Patroklos] mich ihm vielleicht entziehen und ihn seinem Schicksal überlassen können. Aber nicht in diesem. Ich würde mit ihm nach Troja ziehen, und sei es in den Tod. Ja, flüsterte ich. Ja.“ (S. 192)

Es wird ein Krieg über Jahre, der die Teilnehmer müde und bitter werden lässt. Längst ist die Befreiung Helenas in den Hintergrund gerückt; man verliert sich in endlosen, zermürbenden Kämpfen. Der Leser wird dabei nicht geschont, sei es, wenn Miller die Kampfhandlungen beschreibt, das Morden unter der einfachen trojanischen Landbevölkerung oder den Raub und die Vergewaltigung der trojanischen Frauen, die von den Kriegern als Haus- und Bettsklavinnen gehalten werden. Auch Achill, der Schöngeist, dessen Gesang und Leierspiel einst so verzauberten, zeigt sich nun von seiner „blutigen“ Seite. Einzig den Frauen tut er nichts zuleide, denn seine Liebe zu Patroklos genügt ihm völlig. Dies ist ein neuer Aspekt, den die Autorin hier einflicht, denn in der Ilias ist Achill dem weiblichen Geschlecht durchaus nicht abhold.

Millers Verdienst ist es, die berühmten Namen und deren Träger in die bekannten Zusammenhänge zu setzen, sodass der Leser nach beendeter Lektüre einen guten Überblick über das Who is Who der griechischen Mythologie gewonnen haben wird. Da ist Odysseus, der Listenreiche, Hektor, nach Achill der ruhmreichste Krieger, der brutale Agamemnon (der sich nicht scheut, seine eigene Tochter den Göttern opfern zu wollen), der tapfere Ajax, der etwas eitle Paris und natürlich Helena, „die schönste unter allen Frauen“; auch Perseus und Herakles, neben Achill zwei weitere heldenhafte Halbgötter, werden – obschon nicht Teilnehmer am Kampf um Troja – samt ihren Schicksalen beschrieben und in den mythologischen Kontext eingeordnet. Zuweilen manifestiert sich gar die eine oder andere Gottheit und greift in die Handlung ein. Patroklos, der bei Homer keine heldenhaften Taten vorweisen kann und in dessen Ilias eine eher nebensächliche Rolle spielt, bekommt hier von Miller den Part eines der Protagonisten zugewiesen. Er ist nicht nur Geliebter und Lebensgefährte des Achill, mehr noch, er ist dessen zweites Ich, das Alter Ego.

Die antike Ilias zeigt uns einen weitgehend von Zorn getriebenen Achill: „Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus …“ (Peleiade = Sohn des Peleus). Der Achill in Millers Roman zeichnet sich auch andere Wesenszüge aus – er ist loyal, empfindsam und zärtlich; er versucht gar zunächst, seinem Schicksal zu entgehen; ein ruhiges Dasein an der Seite seines Geliebten zieht er dem Kriegshandwerk vor. Bald jedoch siegt sein Stolz und er schließt sich den Kriegern, die für Menelaos in den Kampf ziehen, an. Während Homers Achill so etwas wie Rücksichtnahme nicht kennt, zeigt Millers Held hier doch humanere Züge: Beispielsweise erschlägt er von acht Brüdern nur sieben, damit der achte sein Geschlecht fortleben lassen, aber auch vom Großmut des ihn verschonenden Kriegers berichten kann.

Bei allen sympathischen Eigenschaften bleibt Millers Achill jedoch auch einseitig in seiner Liebesfähigkeit; er ist außerstande zu begreifen, dass man auch Zuneigung zu anderen Menschen fassen kann; Patroklos‘ Freundschaft zu Brisёis, einer von Agamemnon geraubten Trojanerin, versteht er nicht. Diese Egozentrik hat er, der Halbgott, gemein mit seiner Mutter Thetis und den anderen Göttern, denen das Empfinden aufrichtiger Liebe fremd bleibt. Thetis ist in der Zuneigung zu ihrem Sohn ebenso ausschließlich wie dieser in seiner Liebe zu Patroklos. Jener erweist sich im vorliegenden Roman aufgrund seiner moralischen Sensibilität und seiner Fähigkeit zu lieben letztendlich als der wahre „beste der Griechen“.

Zehn Jahre schrieb Madeline Miller, studierte Altphilologin und Lehrerin für Latein und Griechisch in Cambridge, an ihrem bereits 2011 erschienenen Debütroman „Das Lied des Achill“, für den sie 2015 den Orange Prize for Fiction erhielt, der aber erst 2020 durch den Eisele Verlag dem deutschen Lesepublikum zugänglich gemacht wurde, nachdem „Ich bin Circe“ im vergangenen Jahr die Beststellerlisten erklommen hatte. Miller hat Homers große Versepen, die Odyssee und die Ilias, sprachlich und dramaturgisch entschlackt und in zeitgemäßer Form neu erzählt. Die Atmosphäre Griechenlands wird greifbar: Man spürt die Hitze, riecht den Duft der Olivenhaine und des Öls, mit dem Achill jeden Abend seine Füße salbt, hört das Rauschen des Meeresbrandung. Dass die Autorin unter anderem auch Kurse für Dramaturgie an der Yale School of Drama belegte, in denen sie die Adaption klassischer Texte an moderne Formen praktizierte, kommt ihren Romanen auf hervorragende Weise zugute.

Miller zeigt die heroischen Figuren des Romans nicht als ferne, idealisierte Gestalten, sondern von ihrer durch und durch menschlichen Seite, mit Vorzügen, aber auch mit teils gravierenden Schwächen. Auch die Götter sind alles andere als Vorbilder; zuweilen muss ihr Unmut mit ungeheuerlichen Opfergaben besänftigt werden.

Achill und Patroklos versuchen, ihrer Vorsehung zu entgehen und werden letztendlich doch von dieser eingeholt. Wie dies genau geschieht, soll hier nicht verraten werden; obschon dem einen oder anderen Leser der Ausgang der Ilias bekannt sein wird, mag er sich selbst ein Bild davon machen, auf welche fesselnde und überaus berührende Weise uns die Autorin am Schicksal der beiden Hauptfiguren teilhaben lässt.

Ein Beitrag von Isabel Bendt

Literaturhinweis:

Madeline Miller. Das Lied des Achill (OT: The Song of Achilles). Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Michael Windgassen, München: Eisele Verlag, 2020, 412 S.

 

Weitere Literatur:

Homer: Ilias. Odyssee. Übersetzung von Heinrich Voss nach den 1. Ausgaben 1781 und 1793, Weimar: Volksverlag, 1963.

Karl Kerenyi: Mythologie der Griechen. Götter, Menschen und Heroen, 11. Aufl., Stuttgart: Klett Cotta, 2019.

 

© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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