Maui – polynesischer Held und Trickster

Die Mythenwelt Polynesiens beheimatet eine Vielzahl göttlicher und gottähnlicher Wesen. Ihre Erscheinungen sind vielgestaltig, ebenso ihre Namen und ihre Taten. Sie sind reine Götter, Personifizierungen von Naturerscheinungen wie Sonne, Mond, Sterne, Gewitter oder Regen, Mischlinge zwischen Götterwesen und Mensch oder auch Menschen, die in der Obhut von Göttern heranwachsen und von ihnen besondere Fähigkeiten erhalten.

In den mythischen Geschichten Polynesiens begegnet man immer wieder einem Mann, der durch Schelmenstreiche, Magie und Zauberei sowie mit großer Abenteuerlust die Aufmerksamkeit der Menschen und der Götter auf sich zieht. Auf den verschiedenen Inseln Polynesiens variieren die Geschichten über seinen Namen, seine Taten und seine Abstammung, aber überall sprechen die Menschen von Maui oder Tikitiki mit Humor und Bewunderung. Er ist einer der beliebtesten mythischen Helden.

Doch lassen wir ihn selbst erzählen:

Ich bin ein ungewöhnlicher Mann und heiße Maui. Meine Mutter Taranga nennt mich Maui potiki – Maui, der Kleine, da ich das jüngste ihrer zehn Kinder bin. Es gibt noch vier Brüder und fünf Schwestern, alle schon fast erwachsen. Aber ich bin etwas ganz Besonderes – mein Vater ist Tangaroa, der Gott des Meeres und der Unterwelt.
Als meine Mutter, auch im schon vorgerückten Alter noch immer eine Schönheit, in der Lagune zum Fischen war, umspülte er sie mit zärtlichen Wellen und begattete sie. Sehr schnell wuchs ich in ihrem Bauch heran, es drängte mich, auf die Welt zu kommen und ich bewegte und drehte mich und strampelte mich frei! Allerdings etwas zu früh, ich war klein und zart und um mich herum war Wasser. Meine Mutter hatte gerade nach Seeigeln gesucht und als sie sich bückte, sah sie mich im Wasser liegen und erste Schwimmbewegungen machen. Ganz offenbar hatte sie Angst vor mir. Sie nahm ihren Gürtel tikitiki, den sie aus Strähnen ihres Haares gemacht hatte und fesselte mich damit. Dann warf sie das Bündel mit mir ins Meer – zurück zu meinem Vater. Er schickte einige Geister des Ozeans, die mich sorgsam in Seegras hüllten und mein Köpfchen auf ein Kissen aus Quallen betteten. Die kleinen Wellen schaukelten mich in den Schlaf. Mein Vater gab mich zu einem Verwandten in Obhut: zu Onkel Rangi, dem Gott des Himmels. Er legte mich in ein Netz, das unter dem Dach des Hauses hing, der Wind wiegte mich, ich hatte es warm und wurde umsorgt. So wuchs ich auf – zwischen Himmel und Ozean mit all der Weisheit und Liebe unserer Ahnen. Deshalb bin ich das Licht, der Tag und das Leben.

Als ich etwas älter war, hatte ich genug von dieser Art zu leben. Ich wollte endlich Menschen kennenlernen, schließlich hatte mir Rangi so viel von ihnen erzählt. So stieg ich aus dem Meer und ging auf die Suche nach meiner Familie. Bald sah ich meine vier Brüder, die vor dem Haus saßen und spielten. Ich setzte mich zu ihnen, stellte mich als ihr jüngster Bruder vor, aber sie waren abweisend und gemein, sie schlugen nach mir und wollten mich verjagen. Sie erhoben sich, holten Stöcke und wollten mich verprügeln, aber ich verwandelte mich in eine Schwalbe, dann in eine Möwe und später in einen Albatros. Mein krummer scharfer Schnabel zeigte ihnen, wer hier das Sagen hat. Meine Brüder wurden sehr ängstlich und als ich mich wieder in Maui verwandelte, bewunderten sie mich und vor allem meine Zauberkraft.
Schon bald liefen sie zurück zum Haus und setzten sich auf den Vorplatz, um auf meine Mutter zu warten. Ich setzte mich hinter meine Brüder und war gespannt, was nun geschehen würde. Zuerst erkannte mich Taranga nicht, aber ich schaute sie unverwandt an und sie fühlte plötzlich die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind. Sie nahm mich in die Arme und nannte mich zärtlich Maui tikitiki – Maui aus meinem Haar – und nahm mich in die Familie auf. Sie gab mir einen Schlafplatz gleich neben ihr, sie sang mich in den Schlaf und war so glücklich, dass ihr kleiner Sohn nun bei ihr war. Meine Brüder waren eifersüchtig, ich musste sie mit meinen Zauberkräften einschüchtern, bis sie akzeptierten, dass ich blieb.

Eines Tages lernte ich die schöne Rohe kennen und heiratete sie sofort. Ich stellte sie meinen Brüdern vor, sie bewunderten ihre Schönheit und lachten mich aus, weil ich so hässlich war! Sie waren so gemein zu mir, ich ärgerte mich furchtbar.
In der Nacht lag ich bei Rohe und schaute in ihr schönes Gesicht.  Sie schlief tief und fest, es war meine Chance zu zaubern: ich tauschte einfach unsere Gesichter aus. Nun war ich schön und sie war hässlich. Als sie am Morgen erwachte und beim Schwimmen ihr Spiegelbild im Wasser sah, weinte sie und bat mich, ihr das schöne Gesicht zurückzugeben. Doch ich lachte nur. Rohe ging in die Unterwelt zu den Geistern der Toten. Denen ist es egal, ob jemand schön oder hässlich aussieht, es ist dort ja stockdunkel.

Ich bin immer bereit, für die Menschen große Taten zu vollbringen, das liegt mir und ist ein Vergnügen. Als ich eines Tages den gewaltigen Unterkieferknochen meines Großvaters Muri-ranga-whenua fand, wusste ich sofort: der wird mir als magisches Gerät gute Dienste leisten. Es gab auch schon bald eine erste Gelegenheit, das Ding auszuprobieren.

Wie Ihr wisst, scheint die Sonne am Himmel, damit die Menschen genug Zeit haben, all das zu tun, was sie tun möchten. Die Sonne Te Raa hatte aber plötzlich keine Lust mehr, so langsam über den Himmel zu wandern. Jeden Tag rannte sie schneller über das Firmament und so wurden die Tage immer kürzer und kürzer. Es wurde hell und gleich darauf war es schon wieder dunkel. Die Arbeit blieb liegen und die Menschen schimpften auf die Sonne, konnten aber nichts ändern. Und dann beklagte sich auch noch meine Mutter, dass ihr Flachsmantel nicht trocken wurde, weil die Sonne nicht lange genug schien. Hier war wohl wieder eine Heldentat von mir nötig.
So rief ich meine vier Brüder zusammen und erklärte meinen Plan: Wir werden die Sonne fangen und sie überzeugen, wieder langsam über den Himmel zu ziehen und die Tage länger zu machen. Meine Brüder, die Angsthasen, zweifelten. Sie sagten, die Sonne würde uns verbrennen, sie wäre zu stark für uns, es sei besser, man finde sich mit den langen Nächten und den kurzen Tagen ab. Natürlich waren das faule Ausreden, aber schließlich gibt es ja noch mich und meine Ideen.

Ich führte meine Brüder in den Wald, wir schnitten Flachs und brachten ihn nach Hause. Aus den Fasern der langen Blätter drehten wir Fäden und Stricke und flochten sie zu flachen, runden und breiten Seilen. Ich sang derweil magische Lieder, die den Seilen Kraft verliehen, um später die Sonne festzuhalten. Endlich war es geschafft: wir hatten mehrere riesige Seile. Als es wieder dunkel war, nahmen meine Brüder und ich die Seile über die Schultern und zogen los, dahin, wo morgens die Sonne aufgeht. Wir konnten nur im Dunkeln gehen, sonst hätte uns die Sonne entdeckt und meinen Plan durchkreuzt. Wir waren sehr lange unterwegs, aber dann merkten wir, wie die Erde unter unseren Füßen immer wärmer wurde. Der Urwald lichtete sich und wir zogen durch eine karg bewachsene Landschaft. Unser Ziel war nicht mehr weit.
Endlich erreichten wir ein riesiges Loch in der Erde, darin lag die faule Sonne und schlief. Meine ängstlichen Brüder wären am liebsten weggelaufen!
Los, sagte ich, wir häufen einen Erdwall auf, dann wird sie uns nicht gleich entdecken, wenn sie aufwacht. Wir müssen uns beeilen, denn das wird nicht mehr lange dauern.

So türmten wir einen Wall aus Lehm am Rande des Loches auf und versteckten uns dahinter. Jeder meiner Brüder nahm eines der magischen Seile, knüpfte einen Stein an eines der Enden und hatte so ein Wurfseil. Ich sagte ihnen, sie sollten erst werfen, wenn ich das Kommando gebe und dann die Sonne nicht mehr loslassen, egal was passieren würde.

Die Sonne erwachte, langsam erhob sie sich aus dem Loch, wir verhielten uns ganz still. Dann tauchten ihre großen funkelnden Augen über dem Rand des Loches auf und ich schmetterte einen karakia – einen Kampfgesang für Mut und Kraft. Als ihre riesigen weißen Zähne über dem Rand auftauchten, sprang ich auf und rief meinen Brüdern zu: Teenaa!!! Jetzt!! Ihre magischen Seile flogen durch die Luft und die steinbeschwerten Enden wickelten sich um die Haare der Sonne und umschlangen ihren gewaltigen Körper. Ich sprang auf den kleinen Wall, hob den magischen Unterkieferknochen und schlug ihn mit aller Kraft auf den Kopf von Te Raa. Die Sonne schrie vor Schmerzen, ich schlug immer weiter in ihr Flammengesicht.

Du willst mich töten, rief sie. Aber ich sagte, dass ich das nicht möchte, doch ich werde erst aufhören, wenn sie mir verspricht, wieder so langsam wie immer über den Himmel zu ziehen. Die Sonne wollte nicht und sie zappelte und zog und zerrte an den Seilen und meine Brüder hielten sie und ich sang und schlug immer weiter. Langsam wurde die Sonne müde und schwach, sie gab mir das gewünschte Versprechen. Ich erlaubte meinen Brüdern, die Seile zu lockern. Die Sonne taumelte in den Himmel und wanderte dann langsam los. Nun sind die Tage wieder so lang, wie sie sein müssen. Und wenn man genau hinschaut, dann sieht man meine magischen Seile, mit denen die Sonne eingefangen und an der Erde festgebunden wurde.

Ein Beitrag von Dr. Birgit Scheps

Literaturhinweis:

Claudia Roch, Maren Uhlig (Hrsg.). Schöpfer, Schelm und Schurke. Der Trickster im mythologischen Zwielicht. Leipzig: edition vulcanus 2018.

© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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