Grässlich, hässlich, menschlich? – Auf Spurensuche in der mythischen Welt der Monster

Ob Alf, der knuffige Besucher vom Planeten Melmac, das geifertriefende Alien mit seinen Rasiermesserzähnen, Bram Stokers blutgierender Graf Dracula oder das aus Leichenteilen gefertigte Geschöpf des Viktor Frankenstein, sieht man sich in der modernen und postmodernen Fernseh-, Film-, Werbe-  und Literaturlandschaft um, kommt man um die absonderlichen Gestalten nicht herum, die uns mal Furcht einflößen, mal Mitleid in uns erwecken oder uns sogar zum Lachen bringen.

Menschen lieben Monster. Menschen brauchen Monster. Und steht das kreierte Wesen aus dramaturgischen Gründen in seiner ganzen äußerlich angelegten Hässlichkeit nicht zur Verfügung, wird es einfach ins Innere des Nicht-Monsters verlegt. So beispielsweise in der jüngsten Inszenierung von Goethes Faust am Schauspiel Leipzig. Anstelle des teuflisch über die Bühne tänzelnden Mephistos wird Faust selbst von grausigen Stimmen heimgesucht, die den dunkelsten Abgründen seiner Seele zu entspringen scheinen, ihn nicht stillstehen lassen und ihn stattdessen weiter und immer weiter treiben, bis hin zur skrupellosen, abstoßenden Hybris in einer ganz eigenen subjektiven Monsterwerdung, die gar trefflich so manche Aspekte gegenwärtiger gesellschaftlicher und menschlicher Entwicklungen spiegelt. Zurück bleibt am Ende nicht nur der Kampf um die eigene Seele, sondern auch die Frage, weshalb uns das Monströse (egal in welcher Gestalt es sich zeigt) generell in den Bann schlägt. Und das bereits seit antiker Zeit, und wahrscheinlich – wirft man zudem einen Blick auf die archäologischen Zeugnisse – schon viel früher. Mensch und Monster, das scheint zusammenzugehören und dies nicht allein aufgrund der Tatsache, dass etliche Fabelwesen sowohl menschliche als auch monströse Teile in sich vereinen, wie die Sphingen aus Ägypten und Griechenland, der persische Mantikor, die mal weisen, mal frauenraubenden Kentauren oder gar Echidna, die schlangenleibige Mutter der Monster in der griechischen Mythologie, von der sich kulturelle Entsprechungen in Indien, China und gar Mittelamerika finden lassen.

Der Philologe und Nordist Rudolf Simek geht der Frage nach der Monsterfaszination in einer ganz eigenen Spurensuche nach. „Monster im Mittelalter – Die phantastische Welt der Wundervölker und Fabelwesen“ heißt sein 2019 in 2. Auflage im Böhlau Verlag erschienenes Buch. In neun Kapiteln verfolgte er einerseits die Zeitlosigkeit der Monster, ihre lange Tradition sowie ihre Arten und Sonderformen, andererseits geht er der Bedeutung der Monster im Mittelalter und dem Funktionswandel ab der Frühen Neuzeit nach. Das zehnte Kapitel ist als Lexikon konzipiert und gibt dem Leser die Möglichkeit, sich noch einmal von A bis Z über Wesen wie beispielsweise die hundsköpfigen Cynochephales, die mundlosen Astomes (die sich durch das Riechen an Äpfeln ernähren) oder die kopflosen Acephales und Epiphagi (die ihre Augen auf den Schultern tragen) zu informieren. Zwei Dinge fallen jedem Monsterbegeisterten dabei auf: Monster und Wundervölker sind im Mittelalter recht zahlreich anzutreffen. Aber: Diese Monster sind nicht mit den antiken Misch- und Fabelwesen gleichzusetzen, sondern besitzen eine ganz eigene Funktionalität.

Doch was genau ist mit “Monster” gemeint? Die Postmoderne versteht darunter imaginierte Wesen, welche zumeist als hässlich und angsteinflößend wahrgenommen werden, Missbildungen tragen oder generell einen Widerpart zur Natur darstellen. Monster können tierische Ungeheuer sein oder als die bereits angesprochenen Mensch-Tier-Mischwesen vorkommen. Der Terminus kann aber auch – siehe die Inszenierung des Faust – abstrakt auf einen Menschen an sich bezogen sein, dessen Handlungen als besonders skrupellos, ehrenrührig und damit „unmenschlich“ aufgefasst werden. Generell gilt es dabei das „Ungeheuer“ (althochdeutsch „ungehiuri“ > unheimlich, grausig), welches häufig als Synonym für das „Monster“ gebraucht wird, vom eigentlichen „Monster“ zu unterscheiden.

Acephales (Blemmier) – kopfloses Wundervolk (Schedelsche Weltchronik)

Laut Rudolf Simek leitet sich die Bezeichnung “Monster” aus dem Lateinischen von „monstrare“ („zeigen“, „herzeigen“) und „monere“ („warnen“, „mahnen“) ab und diente im Mittelalter als Definition des Anderen, des Fremden, mit der Intention der Warnung „für den Menschen vor den Folgen des Sündenfalls und vor den Konsequenzen ihres eigenen sündhaften Handelns“. Die Monster treten hier auch nie einzeln auf, sondern sind stets in Gruppen präsent. Damit nehmen sie als Wunder- oder Fabelvölker einen festen Platz in der von Gott geschaffenen Weltordnung ein und können ganze Regionen, Länder oder Teile von Kontinenten für sich beanspruchen. (Simek, S. 21) Nicht verwechselt werden dürfen sie indes mit den Dämonen.

Im Mittelalter fasste man Monster als reale Wesen auf, die trotz ihrer Andersartigkeit als für die Lebenden ungefährlich eingestuft wurden. Schon der Kirchenvater Augustinus zählte sie im 4. Jahrhundert n. Chr. zu den Menschen, unabhängig davon, ob Körperteile fehlten, vertauscht, tierischen Ursprungs, von verschiedener Hautfarbe oder unterschiedlicher Größe waren. Dagegen galten Dämonen als übernatürliche, meist körperlose Geschöpfe. Als „Erfüllungsgehilfen des Teufels“ sollten sie die Sterblichen vom rechten, also gottgefälligen Weg abbringen, ihnen Schaden durch Hunger, Krankheiten oder Naturkatastrophen zufügen und die Seelen nach dem Tod im Fegefeuer und in der Hölle peinigen. „Im Gegensatz zu den die Menschen quälenden und verführenden Dämonen sollten die Monster aufgrund ihrer Verweisfunktion in den allegorischen Deutungen den Menschen helfen, ihre eigenen Verfehlungen einzusehen […] und sich dadurch zu bessern. Darüber hinaus dienten sie auch als anschaulicher Beweis für die Vielfältigkeit der Schöpfung Gottes und damit seiner Allmacht, anders gesagt als mittelalterliches ethnographisches Anschauungsmaterial im weitesten Sinne.“ (Simek, S. 22 f.)

Interessant ist, dass wir in der mittelalterlichen Enzyklopädistik und in den Bestiarien antike Monster relativ selten finden. Geschöpfe wie der Minotauros, die Sphinx oder die Hydra waren Einzelwesen. Sirenen, Kentauren oder Satyrn traten hingegen auch bei den antiken Autoren in Gruppen auf und fanden damit, abgewandelt und allegorisiert, regen Anklang in den mittelalterlichen Schriften. Ein gemeinsames Merkmal der Monster, das sich sowohl in Antike als auch Mittelalter finden lässt, und sich vornehmlich auf Reisebeschreibungen stützt, sind ihre unterschiedlichen Essgewohnheit. Ob Fischesser, Reisesser oder Menschenfresser, Gewohnheiten und Abweichungen bei der Aufnahme von Mahlzeiten ist noch heute vertrauter bzw. befremdlicher Teil der menschlichen Kultur, den selbst die Globalisierung bislang nicht hat überwinden können.

Der Umstand, dass sich Monster im Mittelalter so großer Beliebtheit erfreuten, geht maßgeblich auf die „Naturgeschichte“ (Naturalis historia) von Plinius dem Älteren sowie seinem späteren Nachfolger Gaius Iulius Solinus mit seinem Werk „Sammlung von merkwürdigen Dingen” (Collectanea rerum memorabilium) zurück. Kirchliche Gelehrte von Isidor von Sevilla, Vinzenz von Beauvais, Thomas von Cantimpré bis hin zu Konrad von Megenberg, der die erste große Naturkunde in deutscher Sprache verfasste (Puoch von den naturleichen dingen, entstanden 1348-1350), setzten diese Tradition fort. Doch ohne die beiden antiken bzw. spätantiken Autoren wäre das „kulturelle Überleben“ der Monster kaum denkbar gewesen. Hinzu kam der glückliche Umstand, dass auch die Literatur die Monster, vor allem die Pseudobegegnungen mit ihnen, mehr und mehr für sich entdeckte, man denke hierbei beispielsweise an die Alexanderdichtung. Alexander der Große eignete sich deshalb so gut für ein Zusammentreffen zwischen dem „Natürlichen“ und dem „Anderen“, da er als Feldherr nicht nur die Grenzen Griechenlands, sondern auch der damals bekannten Welt erweitert hatte. Viel Raum also für Beschreibungen und Gespräche, beispielsweise mit den Ippotami, behaarten, neun Fuß großen Wasserbewohnern oder den hundsköpfigen Cynocephales.

Darüber hinaus kannte das Mittelalter Monster wie die bereits erwähnten „Astomes“, „die entweder keinen Mund haben und sich dann nur vom Geruch von Äpfeln ernähren, oder aber einen so kleinen, dass sie nur flüssige Nahrung durch einen Strohhalm zu sich nehmen können.“ (Simek, S. 71) In der Allegorese wurden diese Monster dann entweder als genügsam (Gesta Romanorum) oder als gottgefällig (der Apfel als Deutung von Gottes Wort) charakterisiert. Dem gegenüber standen beispielsweise die Sirenen für die Verführung sowie die Lasterhaftigkeit der Frauen. Eine Beschreibung, die noch heute gern in Serien, Filmen und Büchern Verwendung findet und geradezu als Synonym für die lustvolle „femme fatale“ steht, die Männer in den Ruin, den Wahnsinn oder den Tod treibt.

Wasserspeier (Notre Dame, Paris)

Was mir bei der Lektüre besonders gut gefallen hat, ist, dass Simek seine Ausführungen mit unzähligen Abbildungen aus mittelalterlichen Enzyklopädien, Bestiarien, literarischen Werken und Weltkarten unterlegt. Die Monster werden auf diese Weise anschaulich und greifbar, und man kommt nicht umhin die Fülle und den Fantasiereichtum der Autoren und Illustratoren zu bewundern. Zudem lädt die Lektüre ein, sich beim nächsten Kirchenbesuch die steinernen Abbilder in Kirchenschiff und an den Fassaden einmal genauer anzusehen. Die oft wahrhaft monströs dargestellten Wasserspeier gotischer Kirchen sind vielen bekannt. Doch auch andere Monster, wie etwa die Cynocephales (Hundsköpfige) finden sich häufig in der Kirchenarchitektur wieder. Sie gelten dabei funktional nicht nur als Schutz vor dem Wirken von Dämonen, sondern stehen zudem stellvertretend und – anders als man das für das Mittelalter häufig vermutet – als Teil der Schöpfung für den Reichtum und die Ausdehnung der Welt.

Auf Weltkarten sind Monster wiederum häufig an den Rändern versammelt und symbolisieren auf diese Weise das Unbekannte und Unentdeckte. In einem längeren Auszug weist Simek in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die angebliche Vorstellung, die Erde sei im Mittelalter als Scheibe gedacht worden, eine Darstellung der Neuzeit ist. Zudem belegt er ausführlich “die Menschlichkeit” der mittelalterlichen Monster, die ihnen ebenfalls erst in der Neuzeit (beginnend zur Zeit der Entdeckungsreisen des 15. und 16. Jahrhunderts) abgesprochen wurde. Mit der Vorstellung von menschlichen Monstern verband sich u.a. der Missionsgedanke und damit die Hinführung „der Anderen“ zu Gott.

War das Mittelalter also doch auf seine eigene Weise viel toleranter, als man es den Jahrhunderten zwischen dem Untergang Roms bis hin zu Christoph Kolumbus allgemeinhin zugesteht? Eine Frage, die zu überlegen wert ist. Zudem zeigt sich im Reichtum der von Simek vorgestellten Abbildung noch etwas anderes: ein wahrer Schatz menschlicher Imagination. Und Fantasie, das wusste schon Albert Einstein, ist am Ende doch grenzenloser als Wissen. Vielleicht ist es genau das, was Monster und Menschen miteinander verbindet.

Ein Beitrag von Dr. Constance Timm

Literaturhinweis:

Rudolf Simek: Monster im Mittelalter. Die phantastische Welt der Wundervölker und Fabelwesen. Böhlau Verlag: Köln, 2019.

© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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