Fabelwesen aus Sicht eines Zoologen: Einstimmung zum Mythen-Tag

Liebe Leserinnen und Leser des MYTHO-Blogs,

ein turbulentes Jahr neigt sich ganz allmählich dem Ende entgegen, und wir sind immer noch mittendrin im Reich der Fabelwesen, die sich nicht nur in unserem Bestiarium sehr heimisch fühlen, sondern auch Thema des 1. Leipziger Mythen-Tages im Heinrich-Budde-Haus sind. Vom indischen Garuda wird dort die Rede sein, vom dämonischen Wendigo und von keltischen Drachen. Wir freuen uns auf viele neue Impressionen und auf spannenden Gesprächsstoff.

Dabei stellt sich gleichzeitig die Frage, ob Fabelwesen wie der Phönix, der Drache oder der Wolpertinger gänzlich unserer Fantasie entsprungen sind oder ob es die einen oder anderen realen Vorbilder gegeben hat, die die Imagination der Menschen dermaßen beflügelt haben, dass aus diesen Tieren mehr wurde, als das bloße Auge uns glauben macht.

Der Evolutionsbiologe und Naturforscher Josef H. Reichholf hat dazu ein äußerst lesenswertes Buch verfasst. Unter dem Titel “Einhorn, Phönix, Drache – Woher unsere Fabeltiere kommen” geht er den zoologischen Spuren hinter den bekannten Bildern nach, wobei sein Fokus eben auf den tierischen Wurzeln dieser fantastischen Gestalten ruht. Riesen, Zwerge, Geister oder Mischwesen wie beispielsweise die Sphinx sind nicht mit aufgeführt, was der Lektüre nicht im Geringsten Abbruch tut. Vor allem die Exkurse zu jenen Fabelwesen, denen der Held Herakles in seinen zwölf Aufgaben gegenüber tritt, sowie zu den “Himmlischen Tieren” (gemeint sind tierische Sternbilder und Sternzeichen), stellen thematisch eine wunderbare Ergänzung zu dem dar, was im Buch verhandelt werden soll: “Einhorn, Phönix und Drache existierten. Sie waren nicht frei erfunden worden. Ausgestorben sind sie auch nicht. Sie leben immer noch. Das ist die Kernaussage dieses Buches. Mündliche Überlieferung, Übersetzungsfehler und absichtliche Veränderungen entstellten die realen Vorbilder jedoch mit der Zeit so sehr, dass aus wirklichen Lebewesen Fabelwesen wurden.” (Reichholf, S. 7)

Ein Vogel für die Liebe

Ein solches Beispiel ist der Wendehals, vom Naturforscher Carl von Linné (1707-1778) als Jynx torquilla benannt. Die Fähigkeit dieses lerchengroßen Zugvogels steckt bereits im Namen. Er ist in der Lage, seinen Kopf ungewöhnlich weit zu drehen. Dabei wurde ihm nachgesagt, er sei jener in antiken Mythen erwähnte Zauber- und Liebesvogel namens Jynx. “Die Bezeichnung Jynx ist jedoch doppeldeutig. Der Sage nach war Jynx eine Tochter des Pan. Weil sie Zeus dazu verführt hatte, Io zu lieben, wurde sie von Hera in einen Vogel verwandelt. Dieser diente fortan, auf ein Rädchen gebunden, als Liebeszauber.” (Reichholf, S. 166) Man nannte das Rad der Jynx auch “Rad der Hekate”, in Anlehnung die griechische Göttin der Magie und der Totenbeschwörung, die gleichzeitig als Wächterin der Tore zwischen den Welten und der Wegkreuzungen galt. Befestigte man die Jynx an diesem Rad, so sollte, in Kombination mit dem wohlklingenden, flötenartigen Ton des Vogels, der Liebeszauber seine Wirkung entfalten; auf diese Weise laut mythischer Überlieferung des Dichters Pindar (“Pythien”) angewendet bei der Zauberin Medea. Der Anführer der Argonauten, Jason, erhielt von der Liebesgöttin Aphrodite solch ein Jynx-Rad und verführte die Königstochter aus Kolchis damit erfolgreich – ein Geniestreich für seine Mission rund um die Eroberung des Goldenen Vlieses, am Ende todbringend für die gemeinsamen Kinder. Liebeszauber haben auch ihre Schattenseiten, zumal modernen Tierschützern allein schon bei der Vorstellung grauen dürfte, einen lebenden Vogel auf ein Speichenrad zu schnüren, das mit einer zwischen den Händen gehaltenen Schnur angetrieben wurde. “Der Vogel wurde kreuzweise am Rad befestigt. Flügel- und Schwanzspitzen ragten über den Rand. Die weichen Spitzen berührten den [menschlichen] Körper an den dafür empfänglichsten Stellen und lösten besonders intensive Lustgefühle aus.” (Reichholf, S. 170)

Wie bereits erwähnt, soll zudem der Klang der Jynx überaus lieblich gewesen sein. Hier nun stellt Reichholf im Bezug zum Wendehals ein eindeutiges Problem fest: Seine Stimme gleicht eher “hämische[m] Gelächter” denn lieblicher, flötengleicher Melodei. Mehr Chancen hat da die Zwergohreule, die in Griechenland Haine und lichte Wälder bewohnt und ebenfalls den Hals sehr weit wenden kann. “Ihre Rufe klingen klar, hell und wie mit einer Flöte gepfiffen. Sie als sehnsuchtsvoll zu empfinden, fällt nicht schwer.” (Reichholf, S. 168) Auch in den Partnerschaften dieser Eulen geht es recht liebevoll und verschmust zu. Zudem galten Eulen in der griechischen Antike als Symbole der Pallas Athene und damit der Weisheit. Neben der Zwergohreule präsentiert Reichholf noch einen dritten Kandidaten für den Mythos der Jynx: den Ziegenmelker, auch Nachtschwalbe genannt. Sein merkwürdiger Name entstammt der antiken Vorstellung, dieser Vogel würde nächtens an den Eutern von Ziegen saugen. Allerdings will auch bei ihm der liebliche Gesang der Jynx nicht so sehr passen, gleicht dieser doch eher einem “hölzerne[n] Schnurren”, was wiederum dem Schwirrholzklang des rasch gedrehten Jynx-Rades sehr nahekommt. Dem Schwirrholz sagte man, wie bereits beschrieben, eine intensive erotische Stimulation nach. Reichholf nennt es gar den “Vibrator der Antike”.

Welcher Vogel sich nun tatsächlich hinter der Vorstellung des mythischen Liebesvogels verbirgt, ist damit weiterhin offen. Doch die reale Inspiration für Erzählung und Fantasie ist nicht zu übersehen.

Ein tierischer Einäugiger

Ähnlich verhält es sich mit einem Mythos um die Zyklopen (oder Kyklopen). Der berühmteste ist uns als Polyphem aus der “Odyssee” des Homer bekannt. Neben ihrer meist riesenhaften Gestalt (weshalb man sie sich beispielsweise oft als Baumeister oder dämonische Waffenschmiede vorstellte) zeichnen sie sich dadurch aus, dass sie nur ein einziges Auge besitzen, welches ihnen mitten aus der Stirn ragt. Bereits seit Beginn des 20. Jahrhunderts kursierten Theorien über die Herkunft der Zyklopengeschichten. Der Jurist und Schriftsteller Theodor Zell (eigentlich Leopold Bauke), Verfasser von Schriften zur Naturkunde und von populären Tierbüchern, vermutete hinter Polyphem einen Gorilla. Parallel dazu vertrat der Gynäkologe Christian Friedrich Schatz die These, das groteske Äußere sei durch embryonale Fehlentwicklungen bedingt gewesen. Beide Deutungsvarianten werden bis heute diskutiert. Wobei Reichholf noch ein dritte ins Spiel bringt, die des Zwergelefanten. “Schädel von Zwergelefanten, ohne die zugehörigen Unterkiefer weisen nun aufgrund der Rundung des Kopfes eine gewisse Menschenähnlichkeit auf. Sie sind aber dennoch beträchtlich größer. Wo der Rüssel unter der Stirn austritt, hat so ein Schädel ein mehr als faustgroßes Loch. Es kann leicht missverstanden werden als ein einziges Auge, während man die kleinen, weit seitlich am Elefantenkopf ansetzenden echten Augen für Ohröffnungen halten könnte.” (Reichholf, S. 159 f.) Der Autor vermutet, dass Tiere wie der Zwergelefant am Ende des Tertiärs, als das Mittelmeer für eine lange Zeit ausgetrocknet war, mit der Verbesserung der klimatischen Bedingungen aus Afrika nach Norden gewandert seien. Spätere Funde ihrer Schädel könnten den Menschen der Antike also durchaus so vorgekommen sein, als seien sie auf Überreste eines unbekannten Geschlechts von Riesen gestoßen.

Auch Fehlentwicklungen beim Nachwuchs von Ziegen kämen, Reichholf zufolge, für die Deformation der Schädel infrage, zumindest dann, wenn das Muttertier vom Liliengewächs des Weißen Germer frisst, dessen Gift zu Entwicklungsstörungen führt und entstellte Köpfe und Schnauzen hervorbringen kann.

Ein giftiger Hund

Apropos Gift. Eines der bekanntesten Fabelwesen der griechischen Antike ist wohl der Höllenhund Kerberos (Cerberus), der die Eingänge zum Hades, der Unterwelt der griechischen Mythologie, bewacht. Er kann drei oder mehr Köpfe besitzen und zuweilen einen Schlangenkörper aufweisen. Der italienische Dichter Dante Alighieri (1265-1321) schreibt dazu im “Inferno” (Hölle) seiner Göttlichen Komödie:

Das arge Ungeheuer Cerberus
Bellt da auf hündische Weise mit drei Kehlen,
Auf alle, die versunken im Genuß.

Mit schmutzgem, fettgem Bart und Augenhöhlen,
Rot angelaufen, dickem Bauch und Kralle
Zerfleischt und kratzt und schindet er die Seelen.” (Hölle, VI. Gesang)

Kerberos’ Aufgabe war es, jedem, der den Hades einmal betreten hatte, die Rückkehr in die Welt der Lebenden zu verwehren. Die letzte der zwölf Arbeiten des Herakles war es nun, sich mit dem Hund zu messen und das mit bloßen Händen. Es gelang dem Helden, den Hund zu fesseln und an die Oberfläche zu bringen, wo der Speichel des Hundes den Eisenhut (Aconit) entstehen ließ. Der Saft dieser Pflanze “wurde früher zum Vergiften von Ködern verwendet, die gegen Wölfe ausgelegt wurden”. (Reichholf, S. 152) Aber nicht nur für Tiere, auch für den Menschen ist Eisenhut tödlich. Seine Herkunft konnte daher nur auf ein schauriges Wesen zurückgehen und von einem Ort stammen, der nichts Lebendes duldet. Durch das Fabelwesen Kerberos kreierten sich die Menschen also nicht allein den Wächter der Unterwelt, sondern auch eine Erklärung für die Giftigkeit einer real existierenden Pflanze.

Tiere dienen demnach für die Fabelwesen nicht nur als Vorbilder und beflügelten und beflügeln die Imagination, die Imagination selbst kann auch Erklärmuster für reale Phänomene bieten. Eine Verbindung, die Reichholf in seinem Buch immer wieder sehr anschaulich darstellt. Fabelwesen brauchen uns, und wir brauchen Fabelwesen. Sie sind gewissermaßen eine Brücke zwischen der Welt der Vorstellung und der Wirklichkeit. Ein wechselseitiger Austausch, der noch heute anhält und vielleicht Antwort auf die Frage ist, warum Monster und fantastische Geschöpfe sich seit jeher so großer Faszination erfreuen.

Ein Beitrag von Dr. Constance Timm

Literaturhinweise:

Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Aus dem Italienischen von Wilhelm G. Hertz. 12. Aufl. dtv: München, 2001.

Josef H. Reichholf: Einhorn, Phönix, Drache – Woher unsere Fabeltiere kommen. 2. Aufl. S. Fischer: Frankfurt/Main 2015.

© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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