Der MYTHO-Blog liest trotzdem – 1.0

Liebe Leserinnen und Leser des MYTHO-Blogs,

die Leipziger Buchmesse muss im Jahr 2020 leider ausfallen. Wie viele andere Buchbegeisterte sind wir über die Entscheidung sehr traurig und enttäuscht, verstehen aber die Notwendigkeit aufgrund der aktuellen Gesundheitslage in Europa und der Welt. Da es gegen Viren noch keine umfassenden medizinischen Firewalls gibt, diese aber im Internet ein wenig effektiver existieren, haben wir uns entschlossen, unseren Blog in dieser Woche mit Literatur, Buchempfehlungen und Leseimpressionen zu füttern.

Das Team vom MYTHO-Blog möchte Sie daher in den kommenden Tagen auf eine etwas andere Lesereise einladen und auf ganz persönlich Weise über Literatur im Speziellen und das Lesen im Allgemeinen erzählen. Was schmökern unsere Blogschreiber aktuell? Welche Bücher haben sie berührt und zum Nachdenken angeregt? Welche Texte begleiten sie schon seit Jahren? Bücher sind so unterschiedlich wie die Menschen. Bücher führen zusammen. Bücher sind wir.

Das Team vom MYTHO-Blog wünscht Ihnen viel Freude beim Lesen!

Leipzig liest: trotzdem!

Gerade habe ich Yasushi Inoues Roman Die Höhlen von Dun-Huang gelesen. Der japanische Autor hat ihn 1959 veröffentlicht (dt.1986, Suhrkamp). Da ich mich gerade mit den Begegnungen zwischen Asien und Europa beschäftige, kam ich endlich zur Lektüre, denn ich hatte das Buch schon seit 1986 auf den verschiedenen Regalen meines Lebens stehen. Dun-huang ist der Ort der 1000 Buddhas mitten in der Gobi-Wüste, ein Tor auch zwischen Westen und Osten. In Hunderten von Höhlen hat man unendlich viele buddhistische Schriftrollen und Banner gefunden. Der erste Europäer, der sie auswertete und zum Teil mitnahm, war Sir Aurel Stein, ein Brite. Im Roman geht es um einen Chinesen im 11. Jahrhundert, der seine Prüfung nicht besteht und verzweifelt durch Peking läuft. Dabei stößt er auf Menschen, die gerade eine Frau zerstückeln wollen. Er rettet sie und erhält zum Dank ein Tuch mit unbekannten Schriftzeichen. Die Entzifferung dieser Zeichen, die Verstrickung in Kriege zwischen den Chinesen und den Xi-xia bringen ihn am Ende zu den Höhlen von Dun-huang, wo seine von ihm übersetzten Schriftrollen versteckt werden sollen.

Man wird hier in eine völlig andere Welt hineingezogen, die aber keine Fantasy ist. Das Buch erzählt von den massiven geschichtlichen Vorgängen, in denen wir nur als winzige Kügelchen mitrollen – auch heute. Sicherlich kann ich das Buch nicht jedem empfehlen, wie es mit Empfehlungen überhaupt schwer ist. Der eine liest dies, die andere das, je nach Wetterlage der Seele. Ich kann also nur von meinem eigenen Lieblingsbuch sprechen, und das ist (neben Flauberts Bouvard und Pécuchet) Der brave Soldat Schwejk (1920-23) von Jaroslav Hašek aus Böhmen. Leider ist die Figur durch die Verfilmung und das „Böhmakeln“ sehr ins Niedlich-Verrückte abgerutscht. Lest doch bitte einmal das ganze dicke Buch! Es ist so voller Szenen aus der Wirklichkeit einer zerfallenden Welt, der des K.u.k.-Reiches um 1914-18. Zugleich ein ist es ein unendlich trauriges, ein unendlich komisches Buch. Es stärkt den Willen gegen die Macht. Es gibt einem ein anarchisches Grundgefühl und verhilft zu großen Denkpausen: Pausen, in denen man entweder gar nicht mehr denkt, oder in denen man verschärft denkt über den Zustand der Welt. Die Rede ist zwar vom Ersten Weltkrieg, aber man findet Formen des Krieges in vielen Alltagssituationen heute wieder, erst recht in der Politik. Und da hilft Schwejk, der den Hass mit Lachen zertrümmert.

Lange habe ich nach einer Biographie des Autors gesucht. Nun endlich fiel mir eine in die Hände. Und sie stammt von dem Autor, der ein anderes meiner Lieblingsbücher geschrieben hat, nämlich Gustav Janouch. Dieses andere Lieblingsbuch, das ich in den 1970ern entdeckte, sind seine Gespräche mit Kafka. Es ist eben was an diesem Prag.

Elmar Schenkel

Möglichkeiten

Ich erinnere mich, dass ich ungefähr im Alter von dreizehn Jahren dachte, dass Lesen so notwendig sei wie Atmen, da das Leben ohne dieses nicht möglich wäre. Ich glaube, zu diesem Zeitpunkt befand ich mich zwei Bücher weit in der Lektüre, der Chroniken von Prydain von Lloyd Alexande, oder vielleicht waren es die Chroniken von Narnia von C.S. Lewis. Die Einzelheiten sind ein wenig verschwommen (es waren die späten 80er Jahre), aber ich weiß, dass ich beide im selben Sommer gelesen habe. Ich vermisse die Fähigkeit, Tage und Wochen durch Bücher zu verlieren.  Als Erwachsener finde ich Lesen eher wie einen Saunabesuch; es macht Spaß und verjüngt mich, aber bei zu regelmäßigen Besuchen bleibt nie genug Zeit, um zu arbeiten. Stattdessen gibt es diese gestohlenen Momente in der Mittagspause oder in späten Nächten, in denen Schlaf eindeutig die verantwortungsvollere Option wäre. Dennoch sind diese Momente jedes herabhängende Augenlid, jedes Gähnen und jeden dunklen Augenring wert. Lesen ist Magie. Es ist die Magie der wild gewordenen Phantasie, die Landschaften und Szenen schafft, die von nichts anderem als geschriebenen Worten inspiriert sind.  

Mein Lieblingsgenre ist die Fantasy. Warum Fantasy?  Kurz gesagt: Möglichkeiten. In der Fantasy-Literatur sind alle Dinge möglich. Einer meiner Lieblingsautoren, Terry Pratchett, drückte es am besten in einem Interview aus: “Die Fantasie ist eine Art Plasma, in dem andere Dinge getragen werden können.” Pratchett hat die Scheibenwelt geschaffen, und ich finde das erstaunlich. Es ist wirklich so, wie es sich anhört, eine Welt, die wie eine Scheibe geformt ist. Wohlgemerkt viel mehr als das, denn die Scheibe ruht auf den Rücken von vier riesigen Elefanten, die auf dem Rücken einer kosmischen Schildkröte stehen, die durch den Raum schwimmt. Sie ist von unzähligen Kreaturen bevölkert, sowohl mythischen als auch weltlichen, die einfach nur versuchen, sich durch das tägliche Leben zu bewegen.

Ihre Abenteuer sind manchmal shakespearisch, manchmal dickensisch, aber immer humorvoll, immer satirisch und irgendwie unheimlich vertraut. Sicher, viele der Figuren sind Zauberer, Hexen, Zwerge, Trolle oder andere mythische Wesen, aber das macht sie nicht weniger identifizierbar oder verwandt. Pratchett hat sie alle, unabhängig von der mythischen Rasse, mit den gleichen Fehlern und Schwächen ausgestattet, die man in der modernen Menschheit findet. Diese Fehler werden dann auf sarkastische, leicht spöttische Weise angedeutet und lächerlich gemacht, so dass man gleichzeitig lachen und katzbuckeln muss. In den meisten Fällen dient es als Mahnung, etwas zu tun und besser zu sein. Diese geistreiche und satirische Art von Humor fühlt sich insofern relevant und persönlich an, als sie einige meiner eigenen Kritiken über Rassismus, Intoleranz und Sexismus aufgreift, mir aber aber hilft, meine eigenen Fehler zu erkennen. Außerdem bringt mich sein Schreibstil oft zum lauten Lachen (was peinlich sein kann, wenn man an einem öffentlichen Ort liest Sie sind nun vorgewarnt!) und erinnert mich so daran, dass das Leben lustig sein kann, auch wenn es fehlerhaft ist. 

Würde ich seine Arbeit empfehlen? Auf jeden Fall. Welches Werk? Alle, natürlich. Aber ich bin ein hingebungsvoller Fan von zwei bestimmten Figuren: Samuel Mumm (die Wachen-Serie) und Oma Wetterwachs (die Hexen-Serie). Es gibt für jede Serie eine Reihenfolge, daher empfehle ich, jeweils mit dem ersten Buch der Serie zu beginnen. Nicht, weil Sie völlig verloren wären, wenn Sie mit einem anderen anfangen würden, denn das wären Sie nicht. Jede Geschichte ist eine vollständige Einheit, es gibt keinen Cliffhanger am Ende, der Sie dazu auffordert, sich das nächste Buch zu holen. Es ist nur so, dass sich die Hauptfiguren mit der Zeit entwickeln und verändern. Wie das Leben. Mein persönlicher Favorit für die Wachen-Serie ist Die Nachtwächter, obwohl Steife Prise nur knapp auf dem zweiten Platz dahinter landet. Beide spielen gegen Ende der Serie, also hatte Mumm viel Zeit, sich zu entwickeln.  Es ist schwieriger, in der Hexen-Serie einen Favoriten zu benennen. Oma Wetterwachs erinnert mich sehr an meine eigene Großmutter. Es ist deshalb schwer, einen Favoriten auszuwählen, weil es wäre, als würde ich sagen, dass ich meine Großmutter am liebsten mochte, als sie in ihren 60ern statt in ihren 70ern war. Das ist nicht möglich; meine Liebe und Bewunderung für sie geht darüber hinaus. Fangen Sie also irgendwo in der Serie an, aber bitte stellen Sie sicher, dass Sie anfangen.

Colleen Nichols

Pratchett-Zitat entnommen aus: https://blog.patrickrothfuss.com/2015/08/thoughts-on-pratchett/

© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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